Dienstag, 7. Juli 2015

Bachmannpreis 2015. Dana Grigorcea

Dana Grigorcea, Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit

 

Für diesen Text hat die aus Rumänien stammende Dana Grigorcea den 3-sat Preis bekommen. Auf meiner Liste war sie die Nummer eins. Es ist eine großartige Geschichte, die drei Episoden aneinanderfügt, in denen Ahnungslosigkeit zu Verrat führt. Über allem steht die Frage nach Schuld und Unschuld in einer Diktatur, und die Frage, was die Sehnsucht nach Freiheit bedeutet, wie sie sich ausdrückt und was sie mit Verrat zu tun hat.

In der ersten Episode ist Viktoria noch ein Kind und Ceausescu ist in Rumänien an der Macht. Weil wir alles nur aus der Perspektive des Kindes sehen, und dieses Kind vieles  noch nicht verstehen oder einordnen kann, hat dieser Abschnitt etwas von einem Märchen. Eine Straße, in der alle eng zusammenleben, Victoria mit ihren Eltern, Rapineu, der fesche Souffleur der Bukarester Oper und Dobrescu, der Securitate Oberst mit seiner großen Dogge.

Die große weite Welt und mit ihr die Sehnsucht nach Freiheit kommen durch den Fernseher in diese kleine Welt, Rapineu hat den einzigen Farbfernseher in der Straße, hier schauen die Kinder „Fram, der Polarbär“, wo ein Bär aus dem Zirkus ausbricht, hinaus in die weite Welt. Die Mutter schaut französische Filme, die es im Fernsehen nur in bulgarischer Synchronization gibt, die immer überlappt. In Godards „Außer Atem “ sagt Jean Seberg „Ich weiß nicht, ob ich unglücklich bin weil ich nicht frei bin, oder ob ich nicht frei bin, weil ich unglücklich bin.“

Rapineu verehrt Victorias schöne Mutter Despina,

..er sagt zu ihr „mit seiner tiefen Flüsterstimme: „Despina, Liebes, du hast unfassbar blaue Augen.“ Worauf wir losbrüllten vor Lachen. Das sollte den Sommer lang unser Hausscherz bleiben: „Despina, Liebes, du hast unfassbar blaue Augen.“  

Wir wissen nicht, ob da etwas läuft zwischen den beiden, ob das Kind lacht, weil Rapineu nicht in Frage kommt, oder weil ihm das alles doch irgendwie komisch vorkommt.
 

Auch der Securitate Oberst ist ein Verehrer, grüßt die Mutter mit „Küss die Hand, zarte Frau Despina“ und führt mit dem Kind lange ernsthaft Gespräche.

Dann wird die Mutter plötzlich schwer krank. Was es ist, weiß das Kind- und also auch der Leser - nicht. Der Arzt sagt, man könne nur abwarten. Die Mutter wird immer schwächer, und dann wünscht sie sich den Farbfernseher von Rapineu ans Krankenbett, weil sie nicht mehr aufstehen kann. Der Vater sagt : alles nur das nicht, geht dann doch mit dem Kind zu Rapineu, um den Fernseher zu holen, prügelt sich zuerst mit ihm (nun vermutet man doch, dass da was war zwischen der Mutter und dem Hausfreund und dass der Vater davon weiß. Die beiden Männer tragen den Fernseher über die Straße, das Kind muss aufpassen,dass sie keiner dabei erwischt, und begegnet Oberst Dobrescu. Um ihn abzulenken, redet es zuviel und verplappert sich. Es erzählt ihm, dass die Mutter sehr krank sei und dass sie viel Blut verloren hat. Daraufhin verspricht der Oberst, er werde sich um sie kümmern.

Im Fernsehen läuft Außer Atem 

 Und dann, als Jean-­‐Paul Belmondo wieder dabei war zu sterben, also als er zuerst den Zigaretten-­rauch aushauchte und dann lachte und mit seinem Kussmund zuckte, nuschelte er noch: „C‘est vraiment dégueulasse, das ist wirklich ekelhaft.“ 
„Was hat er gesagt?“, fragte ich, gleichzeitig mit der Studentin Patricia. „Vous êtes vraiment une dégueulasse, Sie sind wirklich ein Ekel“, antwortete ein Polizist. „Aber das war nicht richtig“, sagte Mutter empört und begann loszuheulen. „Das hat er nicht gesagt.“

Am nächsten Tag wird die Mutter abgeholt und ins Krankenhaus gebracht und flüstert dem Kind zum Abschied „Missgeburt“ zu.

Die Epoisode endet damit, dass das Kind durchs Fenster die Abfahrt des Krankenwagens beobachtet und einenHund sieht, der fast überfahren wird,

Die Zunge hing dem Hund ganz lang heraus. Ich sah, wie ein großer schwarzer Hund den gerade mit dem Leben Davongekommenen bestieg.

Dies ist ist also die Geschichte, wie Victoria, die „primär“ unschuldig ist, zur Verräterin wird, ohne es zu verstehen. Auch als Leser muss man erst einmal die Versatzstücke zusammensetzen : wieso sagt die Mutter „Missgeburt“ zur armen kleinen Victoria (so wie Belmondo „C`'est dégueulasse“ zu Patricia)? Sie hat „viel geblutet“ - war es eine Abtreibung? Dazu muss man wissen, dass Abtreibung unter Ceausescu nicht einfach verboten war, sein Ziel war es, die Bevölkerung Rumäniens zu verdreifachen, und Abtreibung war deshalb ein Staatsverrat. Den Ärzten war es verboten, Frauen zu behandeln, die nach einer Abtreibung Komplikationen bekamen. Ja, so muss es wohl sein: das Kind hat, ohne zu wissen was es tat, dem Oberst der Securitate verraten, dass die Mutter illegal abgetrieben hat. (Womöglich weil sie  von Rapineu schwanger war und nicht von ihrem Mann)- daraufhin wurde die Mutter abgeholt, ob sie jemals zurückgekommen ist, bleibt offen.

Als Dana Grigorcea die letzten Sätze liest, wo der Hund fast überfahren wird, kommen ihr die Tränen und ihre Stimme bricht für einen Moment. Man kann nicht anders als vermuten, dass es hier ein autobiographisches Moment geben muss. (Und zittert mit: schafft sie es, oder wird sie tatsächlich zu weinen anfangen, was beim Bachmannpreis unerhört wäre? Sie schafft es.) Was mit der Mutter in der Geschichte geschieht, erfährt man nicht. Ist sie gestorben? Oder ist sie mit dem Leben davongekommen und wurde „nur“ von einem großen schwarzen Hund bestiegen?

Wieder ist die Jury an den Handlungsfragen nicht so interessiert wie ich, keiner überlegt, ob die Mutter wohl überlebt hat, ob man die Sache mit dem Hund darauf einen symbolischen Hinweis gibt.  Auch über Schuld und Unschuld des Kindes wird nicht diskutiert. Stattdessen viel über die Medien, das Farbfernsehen, die Asynchronizität der bulgarischen Stimmen.

Dann gibt es ein Intermezzo, das ich rührend finde: Juri Steiner, der sonst immer alles so akkurat entschlüsselt, spricht davon, dass man hier die einzige Auflehnung im Text finde : die Mutter wehre sich gegen die falsche Übersetzung von Belmondos letzem Satz, denn, so Juri Steiner: „Belmondo sagt in Wirklichkeit „C’est déguelasse!“ und meine damit, es ist ekelhaft, dass er erschossen wurde. Dagegen wehrt sich die Mutter, denn Jean Seeberg ist unschuldig!“ Ich weiß nicht, ob das Juri Steiners Interpretation dessen ist, was die Mutter im Text meint, oder ob es das ist, was er selbst denkt. Ich glaube fast, es ist Zweiteres, ich glaube, Juri Steiner hat diesen Film gesehen und sein Leben lang gedacht, Patricia sei unschuldig! Aber leider ist sie das nicht, da bleibt keine Frage offen, das kann man nur denken, wenn man sich absichtlich Augen und Ohren zuhält, wenn sie Belmondo an die Polizei verrät. Genau das scheint Juri Steiner, der in Allen nur Gutes vermutet, getan zu haben!  Aber Belmondo, der im Gegensatz zu Juri Steiner natürlich genau weiß, was Jean Seberg getan hat, bleibt auch im Sterben cool und sagt so etwas wie „das ist widerlich“ – was beides heißen kann: Widerlich, zu sterben, oder Widerlich, was du mir angetan hast- wobei er versucht zu grinsen, und ein letztes Mal seine sexy Lippen vorflunscht. Der Skandal der falschen Übersetzung des Polizisten (übrigens auch im Französischen Original, die bulgarische Synchronisation ist ausnahmsweise unschuldig), liegt darin, dass sie nur mehr eine der beiden Interpretationsmöglichkeiten zulässt.

Die zweite Episode spielt 1992, Victoria ist ein Teenager und Ceausescu gestürzt. Trotzdem hat sich in Rumänien wenig verändert, die Seilschaften der Securitate sind nach wie vor an der Macht. Der Widerstand der Jugendlichen manifestiert sich in ihrer Liebe zu Michael Jackson.

„Damals ging kaum noch einer aus dem Haus ohne die „Dangerous“- Kassette, man trug sie bei sich, und zwar sichtbar, wie einst die Chinesen Das kleine Rote Buch während Maos Kulturrevolution.“

Und dann kommt Michael Jackson für ein Konzert nach Bukarest. Er begrüßt seine Fans vom Balkon des Palasts des Volkes aus, dem gigantomanen Monster, das Ceausescu als neue Akropolis für sich bauen ließ. 70.000 strömen dorthin um ihn zu sehen.

Dana Grigorcea beschreibt unglaublich mitreissend die Euphorie, von der alle ergriffen werden, als ein Feuerwerk losgeht: 


„Es brennt“, rief so mancher fasziniert, „er brennt jetzt alles nieder.“ Und von überall drang Sirenengeheul zu uns her. … „Michael, Michael“, riefen wir unseren Erzengel. Und als das ganze Haus des Volkes hinter Feuer und Rauch verschwand, schrie jemand: „Weg mit der Nomenklatura!“ Oder es kam einfach so über uns und alles begann zu skandieren: „Weg mit der Nomenklatura!“ „Frei-­‐heit, Frei-­‐heit!“ Und alle streckten die Arme dem Regen entgegen, mit den Fingern das Siegeszeichen formend der ein Jahr zuvor zerschlagenen Demos, nunmehr aber mit Zeigefinger und Daumen, nicht mehr das V-­‐Zeichen aus Zeige- und Mittelfinger wie bei der sogenannten Revolution, als die Nomenklatura uns mit einem riesigen, grausamen Schauspiel gelackmeiert hatte.  

Und als sich der Rauch gelegt hatte, weggewaschen vom Regen, hatten wir freie Sicht auf das, was früher einmal das Haus des Volkes gewesen war und sich jetzt in blauen Konturen zeigte – das himmlische Haus des Volkes, das Haus des ganzen Volkes Gottes!
Heal the world 
Make it a better place 
For you and for me 
And the entire human race ... 
Lichtstrahlen bündelten sich auf den Balkon des Volkshauses, wo eine kleine Gestalt stand und winkte.

Dana Grigorcea liest den Abschnitt in einem großartigen Parforceritt, sie wird schneller und schneller, und während man ihr zuhört, beschleunigt sich auch der eigene Atem, man spürt körperlich die Begeisterung der 70.000, die unmittelbar bevorstehende Erlösung. Man spürt, dieser Erzengel ist ganz speziell zu ihnen gekommen, ein Abgesandter des großen Freiheitskampfes, an dem sie jetzt teilnehmen werden, er ist gekommen sie heimzuholen in die Gemeinschaft der Aufrechten, die den Verrat nicht mehr dulden werden, weil er weiß, was sie durchgemacht haben, und nun wird es damit endgültig vorbei sein! Man ist einer von ihnen, ist bereit für die Erlösung als Michael Jackson zum Mikrophon greift:


„Hello, Budapest!“, rief Michael Jackson. „I love you!“

Mir war, als ob es aufgehört hätte zu regnen. Totenstille. Ende. 

 
Dieser Mittelteil schlägt ein wie eine Bombe. Nach dem puren Pop von Teresa Präauer, die direkt davor ihren Text „Oh Shimmy“ gelesen hat, und den vielen Texten bei diesem Bachmannpreis, die ein Meta meta meta Spiel betreiben, wird man hier plötzlich im altmodischen Identifikationsmodus in eine Menge hineingeworfen, die völlig naiv einen Popgott ernst genommen hat, und die schrecklich enttäuscht wird. Man spürt die Desillusionierung geradezu körperlich, das Herz tut einem weh.

Wer ist schuld an diesem Schmerz, an diesem Verrat, fragt man sich wieder, wie beim ersten Teil. Kann man der jugendlichen Victoria ihre Naivität vorwerfen? Wieder hat sie nichts begriffen, hat geglaubt, dass da draußen eine Welt der Freiheit ist, die auf sie wartet, die genau sie meint, und sie mit offenen Armen empfangen wird. Aber das war alles nur Betrug, die Revolution in Rumänien war Betrug, aber die Versprechungen des freien Westens, die durch Radio und Fernsehen gekommen sind, waren es genauso. Sie begreift, dass sie nicht gemeint war, dass die einzige Fähigkeit von ihr, auf die man „draußen“ gewartet hat, die der Konsumentin war. (Übrigens genau das, was Fram, dem Polarbären passiert ist, als er in die weite Welt hinausging- Victoria hätte also gewarnt sein können).

Aber es gibt noch ein zweites Kind in dieser mittleren Episode, dessen primäre Schuldlosigkeit hier zur Debatte steht: Michael Jackson, das ewige Kind, das sich als Engel stilisiert hat, das mit seiner Musik nicht nur die eigenen Kindheit heilen wollte, sondern die ganze Welt, das alle Kinder der Welt eingeladen hat, auf seiner Neverland -Ranch mit ihm Karussell zu fahren, und das auf den Balkon des Palasts des Volkes in Bukarest getreten ist, ohne zu wissen, wer all die kleinen Punkte eigentlich waren, denen es Erlösung versprochen hat. War er schuldig? Oder nicht?

Die dritte Episode spielt in der Jetztzeit. Victoria und ihr Mann begleiten zwei andere junge Paare bei einer Besichtigungstour durch den ehemaligen Palast des Volkes. Es sind Exilrumänen, einer hat in Silikon Valley Karriere gemacht und ist „todunglücklich, das traditionsreiche Osteuropa verlassen zu haben“. Seine junge Frau ist pikanter Weise die Enkelin eines ehemaligen kommunistischen Ministerpräsidenten, dessen Geld sie wohl geerbt hat. Sie begeistert sich auf eine naiv-amerikanische Art für das „riesige Haus“, es erinnert sie an eine Installation von Pippilotti Rist mit überlebensgroßen roten Sofas, „auf denen man so klein wird und unschuldig und ganz ohne Sorgen. Das vermittle einem das Gefühl, wieder Kind zu sein, ob das nicht phantastisch sei, man wolle sich gleich austoben.“

(Das ist das zweite Mal, bei dem man als Zuhörer des Bachmannpreises das Gefühl bekommt, die Texte würden sich direkt aufeinander beziehen, denn kurz davor ist Teresa Präauer mit Pippilotti Rist verglichen worden. Und nun spricht hier eine fast unerträglich naive Figur davon, wie ihr ebenjene Künstlerin ermöglicht, sich wie ein Kind zu fühlen- und beschreibt die Freude, durch POP historische Verantwortung leugnen zu können).

Diese junge Frau will unbedingt darüber diskutieren, ob das Ehepaar Ceausescu wohl vorgehabt habe, Sex in diesen riesigen Räumen zu haben. Victoria glaubt das nicht, ihr die noch unter Ceausescu aufgewachsen ist, kommt diese Art von Spekulationen sehr fremd vor, 

„Sie hätten sich doch kurz davonschleichen und schnell Sex auf der Toilette haben können, um es allen zu zeigen, insgeheim.“ 
„Ich denke nicht, dass sie allein bleiben wollten, sie hatten ja Angst vor Anschlägen.“ 
Die junge Frau ist irritiert. Sie will mir widersprechen, hat aber keine Argumente. Ob ihr Großvater noch lebt? Sie ist ein sogenanntes Nachwendekind, das keine Schuld auf sich geladen hat und dieses primäre Gefühl der Schuldlosigkeit vor sich herträgt.“

Am Ende möchte die junge Frau, dass Victoria sie am Balkon fotografiert, „sie und die Stadt“, aber:

„.. vom Balkon aus sieht man eigentlich gar nichts, nur diese Kulisse aus cremefarbenen Wohnblockreihen. Im hellblauen Dunst zeichnet sich etwas ab, das aussieht wie die Alpen von Zürich aus gesehen, über den Zürichsee hinweg. Ich drücke ab.“

In dieser dritten Episode scheint sich die Schuldfrage am klarsten beantworten zu lassen: so naiv, wie diese Person darf man nicht sein, jedenfalls dann nicht, wenn man Geld geerbt hat, das durch eben jene Gewaltherrschaft verdient worden ist, von der man nichts wissen will. Aber es bleibt irritierend. Denn die junge Frau scheint aufrichtig zu sein in ihrem Nicht-begreifen. Sie stilisiert sich selbst zu einem unschuldigen Kind. Aber genau das ist auch der Status der Untertanen in einer Diktatur: sie sind wie Kinder, halten sich alle primär für unschuldig, weil sie klein und ohnmächtig gehalten werden. Dass die Gewaltzusammenhänge aber in jede einzelne Beziehung eindringen wie ein Myzel, dass sie alle Handlungen bestimmen, und dass deswegen die Frage nach Schuld und Unschuld in einer Diktatur nicht nur schwer zu beantworten ist, sondern dass die Frage selbst etwas  primär Unfassliches hat und von Menschen, „die nicht dabei waren“ wohl kaum nachvollzogen werden kann.

Ich finde an dieser Erzählung mehrere Dinge großartig. Das eine ist, wie sie den Bogen nicht über die Handlung konstruiert, sondern über eine theoretische Frage, von der man annehmen kann, das auch die Hauptfigur sie sich stellt- und dass sie die mithilfe eines Triptychons aus Anekdoten diese Frage nicht beantwortet, sondern stattdessen ihre Dringlichkeit verschärft. Es ist kaum zu glauben, dass der Text nicht so konzipiert wurde, wie er hier steht, sondern ein Auszug aus einem Roman mit demselben Titel ist.

(Der Titel ist das einzige, an dem mich etwas stört – und zwar das „primär“, das hier als Adjektiv gebraucht wird. Ich vermute, dass eigentlich gemeint ist, dass alle Figuren, die Kinder und Pseudo-kinder, sich primär, ursprünglich, unschuldig fühlen. Aber dann, bei genauerer Überlegung, ist es doch nicht so sicher, ob sie damit Recht haben. Für diese Bedeutung müsste „primär“ aber das Adverb sein. So wie der Titel hier steht, muss es außer dem „primären Gefühl der Schuldlosigkeit“ auch ein sekundäres Gefühl der Schuldlosigkeit geben- und was sollte das sein? Aber vielleicht habe ich es nur nicht richtig verstanden- Juri Steiner, helfen Sie mir!)

Das zweite, was mir an der Erzählung so gefällt, ist, dass sie mir etwas begreifbar macht, was ich persönlich bei einem Besuch in Bukarest nicht so recht fassen konnte. Mein Familie väterlicherseits kommt aus Bukarest, sie wurden zuerst als Juden verfolgt, dann von den Kommunisten ein zweites Mal enteignet und sind Ende der 50-er Jahre emigriert. Mein Vater ist danach nie mehr in Bukarest gewesen. Vor zwei Jahren war ich das erste Mal dort, um zu sehen wo er aufgewachsen ist. Etwas so Unbegreifliches wie diese Stadt habe ich nie zuvor gesehen. Das lag vor allem an den scheinbar wahllos herausgerissenen Teilen, als sei ein Riese durchgestapft und habe überall Häuserblocks herausgerissen. Das Haus, die Straße, das Viertel in dem mein Vater aufgewachsen ist, existierten nicht nur in der Realität nicht mehr sondern auch nicht auf einem Plan- wo sie gewesen waren, waren nicht etwa andere Häuser entlang einer früheren Straßenführung, sondern ein Chaos aus monströsen Wohnblocks, die ohne irgendeine Logik in Haufen standen und dazwischen hockten kleine, völlig verwahrloste Jahrhundertwendhäuschen, leere Reste einer Vorstadtidylle (aber meine Großmutter hatte es Kleinparis genannt?) im Schatten der Moloche. Das Verrücktteste war tatsächlich der Palast des Volkes, er war (und ist) so groß, dass ich ihn
buchstäblich nicht sehen konnte, er passte nicht zu den Mustern, die Gestaltwahrnehmung erst möglich machen, mein Hirn sagte mir: was du da siehst, ist entweder Einbildung, eine Fata Morgana (und tatsächlich flimmerte das Bild in der Hitze), oder es muss viel weiter weg sein als du glaubst, nicht einen Kilometer entfernt sondern hunderte, und deine Wahrnehmung spielt dir einen Streich, das hier ist so weit weg wie die Alpen von Zürich. Ich versuchte Fotos zu machen, zu filmen, um meinem Vater zu zeigen, was aus Bukarest geworden ist, aber die Größenunterschiede waren zu extrem, es gelang mir nicht, ein Foto zu machen, das vermittelt hätte, was ich sah. Und es gab auch nirgends Ansichtskarten. Der Text von Dana Grigorcea hat mir dieses Nichtbegreifen, Nicht- beschreibenkönnen sinnlich erfahrbar gemacht.

Und das ist auch das Dritte, was mir so gefällt: ich persönlich kämpfe mit dem Problem, etwas aus meiner Vergangenheit zu erzählen, das scheinbar kaum noch zu vermitteln ist. Als gäbe es  kein Ort Echos mehr auf meine Erfahrungen. Was Dana Grigorcea da beschreibt ist so etwas Ähnliches, insbesondere im ersten Teil. Das Zusammenleben im kommunistischen Rumänien wirkt idyllisch, melancholisch, tragikomisch, (ein Problem, das ich jedesmal habe, wenn ich etwas über meine jüdische Familie schreibe, und sehe, wie die Leute ein wehmütig gerührtes Lächeln aufsetzen: pittoresk, folkloristisch, ach so bittersüß, sehe ich sie zu meinem Entsetzen denken). Was so schwer zu vermitteln ist, hängt sicher mit der Gewalt zusammen, die, solange noch nichts „passiert“ ist, auf so humoristische wirkende Weise mitten im Inneren des warmen Biotops gedeiht. Hier ist es der Oberst der Securitate mit seiner schönen Dogge, aber ich kenne dieses Gefühl auch aus vielen Beschreibungen von Freunden, die von ihrer Zeit in der DDR erzählen- und immer hat dieses enge Zusammenleben mit Spitzeln, die auch ganz menschlich sind, hat diese ständige Gefahr und Unterdrückung, mit der man auf alltäglicher Basis umgeht, auch etwas Wärmendes, der Feind liegt falls nicht im eigenen Bett dann wenigstens im eigenen Garten, und das ist nicht nur schrecklich, sondern es ist vor allem ganz anders. (Und existiert überall, wo Menschen gezwungener Maßen intim mit der Gewalt werden- ich kenne es z.B. aus dem Zusammenleben in einer Psychiatrischen Anstalt. ) Es lässt sich jemandem, der es nicht kennt, glaube ich, nicht vermitteln. Der Versuch verharmlost automatisch, oder aber er verschweigt den heimeligen, familiären Anteil der Gewalt. Was Dana Grigorcea hier aber gelingt, ist zu erzählen, auf welche Art sie selbst nicht verstanden hat, als Kind, als Jugendliche, und wie sie sich später nicht mehr verständlich machen kann. Und dieses Nichtverstehen und sich nicht Verständlichmachenkönnen ist wiederum etwas, das alle Zuhörer und Leser des Textes verstanden und mitempfunden haben. Es ist- anders als die komplizierten Gewaltverhältnisse, die ihm zugrunde liegen- offenbar „anschlussfähig“, wie man heute sagt (das englische „I can relate to that“ gefällt mir besser). Und das ist großartig! Das öffnet mir eine Tür, ich habe durch diesen Text gleich mehrere Dinge verstanden, und deshalb bin ich begeistert.

Sonntag, 5. Juli 2015

Bachmannpreis 2015. Meine Favoritenliste

1 Dana Grigorcea  (für mich großem Abstand der beste Text. Ich hoffe sehr, dass sie gewinnt)

2/3  Nora Gomringer
       
       Valerie Fritsch

Beim Publikumspreis tippe ich außer auf Dana Grigorcea (vielleicht haben ja alle im Publikum empfunden wie ich) auch auf die beiden Superperformerinnen Nora Gomringer und Teresa Präauer. (Präauer stünde auch auf meiner Liste, wenn der Text ordentlich kritisiert worden wäre. So wie es war- mit dieser Friede-Freude-Eierkuchereaktion, tut sie es nicht mehr. Ist es okay einem Text vorzuwerfen, dass er auf zu wenig Widerstand gestoßen ist?. Ja- Entweder sie wollte genau das erreichen, was war: Affirmation pur - dann stört mich das sehr. Oder es ist so gekommen, obwohl sie es nicht wollte- dann ist was am Text nicht gelungen)

Ich finde- wie alle anderen auch- dass das ein sehr guter Jahrgang war (bis auf die Männer.... die haben dieses Jahr Schaden und Spott, die Armen).
 Ich würde auch Ronja von Rönne und Katerina Poladjan Preise geben- aber es gibt ja nur noch drei. Der Text von Monique Schwitter steht wahrscheinlich auf der Liste der Jury (aber nicht auf meiner).

Bachmannpreis 2015. Dritter Tag. Teresa Präauer

Teresa Präauer, „Oh, Shimmi!“


Riesenerfolg, Lachsalven, Jury ausnahmslos begeistert. 

Story: Junger Mann will Frau- sie will ihn nicht. 

»Schimmi, verschwinde. Bevor du dich zum Affen machst.. 
Sapperlot, sie lädt mich ein, denke ich, und pfeif“ 

Er nimmts als Aufforderung, holt sich im Kostümverleih ein Affenkostüm, grooved sich voll ein auf den Affen, ein Riesensprachspaß ist das, und nicht nur Sprach-, sondern Überhauptspaß. Der ist eins mit sich, der Shimmy- affe, der wills und ist unterwegs um sich zu holen, was er will, da ist echte Begeisterung und Freude in seinem Kopf, das ist das Paradies in seinem Kopf, und als Zuhörer bist du auch im Kopf von diesem Shimmy, und der rapt in seinem Affenkostüm zurück zur Wohnung von seiner Ninni und tritt die Tür ein...

»Ich bin Schimmi, der Affengott!«, gröle ich durch Ninnis Appartement und springe ins Schlafzimmer. 
»Komm zu mir, süße Mangofrucht!«, jaule ich, werfe mich aufs Bett und breite meinen schwitzenden Affengottkörper über ihr Laken aus Nylon.
»Nie, nie, nie« und »nee, nee, nee«, quengelt Ninni, aber ich verstehe ihre Sprache, denn ihr Nein meint ein Ja. Nein-nein-nein, sagt sie, aber in Summe ergibt das ein Ja.“

… und will sie begeistert vergewaltigen. 

So eine unglaubliche Lockerheit! heißt es in der Jury, so leicht!! So lustig, ein Zauberstück auf offener Bühne- so ein Vergnügen!!

WTF!! Darf sie das? So lustig affirmativ in einen Machomöchtegernvergewaltiger hineinschlüpfen, einfach so, zum Spaß? Jajja, sie darf, Autoren sollen alles dürfen. Aber darf die Jury, - dürfen die Frauen in der Jury, so begeistert sein- von der Leichtigkeit? Ich finde: nein! Weil es die Art von leichtem, lustigen Vergewaltigerspaß für Frauen nicht gibt, nur in einer virtuellen Welt, in der sie ein Mann sein können. Und weil der Text völlig auslässt, dass es die Art von Spaß nur für die eine Hälfte der Menschen gibt, und das ist für die andere Hälfte außerhalb von Popvergnügen zumindest ärgerlich, man kann das auch noch viel übler finden. Und diese strukturelle Ungleichheit, die da leider nicht nur eine körperliche ist, sondern auch eine, die den möglichen Seelenspaß betrifft, den man im Leben so haben kann, die ist durch den Feminismus noch keineswegs beseitigt worden. Schlimmer: es gibt kaum Vorstellungen davon, wie das überhaupt gehen könnte. Und: ja: das mäkelnd einzuwenden, dagegen mürrisch aufzutreten, das ist diese blödsinnige feministische Unzufriedenheit, vor der sich z.B. die süße kleine Ronja von Rönne ekelt. Ich verstehs. Das ist nicht sexy. Wer so motschgert nach einem sooo lustigen, sooo

spielerischen Text, der versteht keinen Spaß. Da geht’s doch nicht um Flugblätter sondern um Sprache, Spiel usw., stimmts? Da gehts um den Rhythmus wo man mit muss. Solche Weiber, die das nicht verstehen,  sind Spaßbremsen, sagen sie oben in Deutschland. Und in Ö, dort wo Shimmy der Affe unterwegs ist, täten sie sagen: So eine is eine zuag‘nahte Fut, auch Klammerfotze genannt. Und so eine bin ich also, wenn ich mich nicht mitfreuen kann mit der Jury.

Wie hat Teresa Präauer das gemacht? Der Text macht ja wirklich Spaß. Ich denke, er handelt wirklich vom tiefsten und sc
hönsten Vergnügen, das es gibt.  Man muss nur an junge Tiere denken, die sich balgen. Wie die sich an ihrer Kraft freuen, und ausprobieren, gegen wen sie wie gewinnen könnten- und das Leben voll solcher aussichtsreicher Kämpfe liegt vor ihnen. Wenn man da zuschaut, geht einem „das Herz  auf“, vor soviel Lebensfreude, Vitalität- vor soviel Ungebremstheit.  Den Schimpansen sind wir ja wirklich extrem nah- und können sehen, wie es läuft: Gruppentiere sind das. Und sie wollen um ihren Platz in der Hierarchie kämpfen und wollen Sex haben. Und beides hängt eng zusammen und beides ist nicht gänzlich genetisch festgelegt, sondern was festgelegt ist, sind verschiedene mögliche Muster. Und in sich in ein solches Muster hineinfallen lassen und dabei die eigene Kraft spüren und wissen, dass man eine Chance hat zu gewinnen – das ist wohl „das Schönste, das ist das Schönste, auf der Welt“. 
 Aber viel davon ist reguliert- ist nicht „einfach so“ erlaubt, bei den Schimpansen schon nicht und bei uns erst Recht nicht. Es soll ja eine funktionierende Gruppe bleiben- Konkurrenzkämpfe dürfen nicht zum Tod des Schwächeren führen, sondern nur zu dazu dass er die Niederlage akzeptiert und im Status jetzt eine Stufe  tiefer steht. Es gibt- auch schon bei Schimpansen- ein  Gerechtigkeitsgefühl, das Statusunterschiede nur bis zu einem gewissen Grad akzeptiert (der bei uns wohl zur Zeit weit überschritten ist). Und bei der sexuellen Balz dürfen die Schimpansenmännchen zwar auch solche Weibchen pimpern, die deutlich nicht zugestimmt haben, aber sie dürfen sie nicht grob verletzen. Aber immer ist bei diesen Mustern ein gerütteltes Maß an Gewalt im Spiel, keine vernichtende, nur unterwerfende Gewalt. Und der Spaß, die Begeisterung, ist von der Gewalt nicht zu trennen. Verlangen die Regeln der Gruppe, dass man die Gewalt bremsen muss, dann gibt es einen moralischen Konflikt (auch schon bei den Schimpansen) – und der ganze Vorgang beginnt zu ruckeln, es läuft nicht mehr glatt,  nicht mehr so schön, so leicht, so froh. Im Paradies, so stellen wir uns das vor, gab es diese moralischen Konflikte noch nicht- und daher paradiesische Zuständ-.



Shimmy, der Junge in seinem Affenkostüm, hat eine solche Freude. Die gibt’s, die ist bestimmt herrlich- die lässt sich nicht ablösen von der Gewalt. Wir- „zivilisiert“ wie wir sind, wollen von den  Zusammenhängen von Lebensfreude und Gewalt meist nichts wissen. Stellvertretend genießen wollen wir sie aber schon. Erlaubt ist das im Sport. Und in der Literatur dürfen wir mit Kämpfern mitfühlen, die als Ausgangspunkt eine arge Benachteiligung haben. Wenn es einer unbedingt schaffen will, der aus ganz armen Verhältnissen kommt, am besten eine Waise, oder einer, der nur ein Bein hat, oder aus irgendeinem Grund, den wir falsch finden, einfach keine gleichen Ausgangschancen bekommt, weil er oder sie schwul ist oder schwarz z. B., dann dürfen wir es mitgenießen, wenn sich so jemand hinaufkämpft, und da darf uns auch die Gewalt gefallen – ist ja „Gegengewalt“  (so hieß das früher). Sonst nicht.  Wie macht das also die Präauer mit ihrem Shimmi, dass sich alle in der Jury erlauben können, sich mit der Gewalt mitzufreuen?



Erstens macht sie‘s mit einem billigen Ende. Die Vergewaltigung (die in seinen Augen nie eine war, denn im Balzritual von dem ich  glaube, dass es uns wirklich in den Genen steckt, geht es um Verfolgung und Flucht, um Unterwerfung und Hingabe- und es steckt also wirklich im Ritual, dass einer von beiden nein sagt und ja meint. Wenn man das umstoßen will (die Bonobos scheinen es getan zu haben) dann bringt man sich um ein paar Hundert Tausend Jahre des ungebrochenen paradiesischen Vergnügens …. Die Feministinnen verlangen wohl nicht weniger als das, und da kann man schon wütend auf sie werden- sie verlangens und versuchens, weil das Vergnügen der Unterwerfung lang nicht so paradiesisch ist, wie auf der eigenen Kraft mit Wumms und allen Segeln der Natur gewaltsam in den andern hineinzurauschen)- diese Art der Vergewaltigung, die für Shimmi keine ist, die gelingt nicht. Nini ist stärker und verprügelt ihn. Ist also „nix passiert“.  (Gibt’s übrigens bei Schimpansen auch- manchmal trifft einer, ders „unbedingt wissen will“ auf ein Weibchen, dass nicht nur keine Lust hat, sondern auch stärker ist als er, und ihn verprügelt.)

Das ist, wie ich finde, ein billiger Trick, denn alles, was in Shimmi vorher vorgeht, und was  so viel Spaß macht beim Zuhören, wäre ganz genauso, wenn die Autorin ihn auf eine ein bisschen schwächere Gegnerin hätte zugrooven lassen – und dann hätte sie den Text mit derselben Begeisterung in einen erfolgreichen und mit einiger Gewalt erzwungenen Beischlaf münden lassen müssen. Wie wär das gewesen, Jury? Immer noch so leicht? Immer noch ein Sprachspiel? 

Ich bin übrigens ungerecht: Sandra Kegel hat dieses Ende moniert. Als Einzige hätte sie sich gewünscht, dass das nicht so einfach aufgelöst würde.

Also: die Gewalt samt Spaß war zwar da, aber Shimmi hat verloren. Und: dieses lustige
Österreichisch! Da ist die Gewalt ja von vornherein nicht so ernst, bei so einem Dialekt. (Von Helmut Qualtinger gibt’s natürlich viele schauspielerische Gegenbeispiele).

Die Bedingung, unter der wir bereit sind Großmäuligkeit lustig zu finden, ist, dass sie von Underdogs kommt. Ich kenne das! Ich arbeite mit türkischen Kids und gegen den Machocharme der Jungs kann man sich kaum wehren. Dieser unbedarfte Genuss am
eigenen Testosteronspiegel ist ungemein attraktiv. Wie die Jungs ihren vierjährigen kleinen Brüdern beibringen, wie sie mit ihren kleinen Babyspeckbeinen breitbeinig in der Mitte des Gehsteigs gehen und auf keinen Fall auszuweichen sollen - das ist soooo lustig und süß. Aber es ist nicht ebenso lustig für eine Frau, die dann ständig ausweichen muss. Und- und das ist das eigentlich Prekäre: eine Frau , die versucht NICHT auszuweichen, ist nicht sexy und es verschafft ihr nicht denselben Genuss- weil sie nicht in ihre Muster sinken, nicht auf vorgegebene Weise ihre Kraft erproben kann. Sie kann nie so ein Shimmiaffe sein- ein Text, der ihr das vorgaukelt, betreibt vorsätzliche Täuschung.



Klaus Kastberger bedankt sich bei dem Text, weil er sich durch ihn jung fühlt. Ja, ich verstehe das. Er hat da auch eine wunderbare Erlaubnis bekommen als Mann. Denn was man spürt, ist männliche Vitalität. Aber wunderbarer Weise durch Mund und Stift einer Frau- und daher genehmigt. Denn freilich gibt es auch Gangsta Rapper, die mit ihren Phantasien so ein Vergnügen beschwören, aber da voll einzusteigen darf sich ein erwachsener Intellektueller nicht erlauben. Der muss behaupten, es sei ironisch- wo doch die Freude darauf beruht, dass man ganz mit sich eins ist, also eben gerade nicht ironisch.



Wer fällt dem Feminismus entschiedener in den Rücken, Ronja von Rönne oder Teresa Präauer? Ich finde dieser Jugendpreis geht eindeutig an Teresa Präauer (und wird ihr daher auch einen der Preise eintragen und Ronja von Rönne nicht. Das übrigens diese BEIDEn von Hubert Winkels eingeladen wurden, lässt mich schon ein bissl nachdenklich werden bezüglich seiner Präferenzen)

Spaß machen beide auf dieselbe Weise: sie trauen sich, den Spaß an Gewalt auszustellen. Ronja von Rönne denkt über ein alternatives Rastamädchen in der Kneipe, die solle eine Burka anziehen, so hässlich wie sie sei. Selbe Art von Lacher: sie gibt zu, dass es Konkurrenz gibt, und sie trommelt sich an ihre Brust und sagt: da schaut her, wie hübsch ich bin, ich bin die Schönste! Ich mach die alle fertig mit meinem Aussehen, ich gewinne diese Konkurrenz und das macht mir auch Spaß. Das zu zeigen, ist politically incorrect- deshalb ein Vergnügen. Und sie macht aber auch schnell einen Rückzieher, was die Freude betrifft- schon eine Seite später sehnt sie sich nach Geborgenheit und will lieber nicht mit den Mädchen kämpfen. Aber davor redet sie vom Spaß an der Gewalt, sagt, sie wünscht sich ein bisschen Krieg und schüttet ein Bier um. Sie wünscht sich Testosteronspaß wie die Jungs ihn jetzt in so einer Kneipe bestimmt hätten. Obwohl sie sich offiziell vor Feminismus ekelt, wünscht sie sich Gleichberechtigung- die sie nicht hat. Und was ist das? – Genau.  Präauer hingegen:  verschleiert und verwitzelt, dass es für eine Frau einen ähnlichen Gewaltspaß, wie Shimmi ihn erlebt, nicht geben könnte. Man muss sich nur vorstellen, dass eine Frau, der ein Mann gefällt und die Sex mit ihm anbahnen möchte, sich ein Affenkostüm holt und sich dann voll in die Automatismen fallen lässt, die wir von (weiblichen) Schimpansen kennen. Wäre da so ein Spaß denkbar? No no no.



Direkt danach kam Dana Grigorcea mit einem großartigen Text, Besprechung folgt.  Sie ist meine Favoritin.

Freitag, 3. Juli 2015

Bachmannpreis 2015. Zweiter Tag, Monique Schwitter, Ronja von Rönne


An diesem Nachmittag tickt es in mir zweimal hintereinander anders als in der Jury. 

Monique Schwitter, „Esche“

Die Autorin ist Schauspielerin (wie auch Katerina Poladjan) und liest ausgezeichnet, prägnant, schöne Stimme. Überhaupt gibt es in diesem Jahr viel gute Vorträge, die Zeit, in der es als besonders genialisch galt, wenn Autoren sich in den eigenen Texten hauchend verschwurbelten und niedergedrückt vom Gewicht ihrer Kunst am Wasserglas hingen, scheint vorbei zu sein. Gott sei Dank.

Story: (da geht mein Problem los: ich wünsche mir offenbar mehr altmodische Story, mit Konflikt und Pointe, als sämtliche Mitglieder der Jury.) Also: Eine Icherzählerin geht mit dem schwulen Freund der Familie durch den Wald. Es ist ein „Friedwald“ wo man die Asche von Toten beerdigen kann, die neueste Mode. Die beiden suchen eine bestimmte Esche, der Freund, Nathanael (Thanatos, sic!), soll für seine demente Mutter entscheiden, ob sie hier begraben werden soll- neben ihrem Mann, dessen Geliebter und deren Mann, der wiederum als einziger von diesen Vieren schon tot ist und bereits hier liegt. „Verzwickte Liebesverhältnisse“: Der Vater hat sich nachdem die Mutter dement wurde, mit der Nachbarin zusammengetan, die die Mutter, als sie noch klar im Kopf war, nicht leiden konnte. Soll die Asche der Mutter also neben der Asche dieser beiden liegen?

Auf Seite drei kommt dann doch noch sowas wie der Beginn einer konventionellen Geschichte ( wo man, oder wenigsten ich, sich bereits ziemlich ungeduldig fragt, worum es denn eigentlich geht):

   „Was machen wir jetzt bloß?“ fragte er, als ich ihn letzte Woche anrief, und schnäuzte sich. „Kommst du klar, mit allem? Mit den Kindern? „Weiß ich nicht“, antwortete ich. Er bot an, uns abends zu besuchen, mit den Kindern zu spielen, sie ins Bett zu bringen, gemeinsam zu kochen.

Endlich eine Frage, der ich als Leser nachgehen kann: was ist passiert? Offenbar ist der Mann der Erzählerin weg, warum? Aber die Frage wird sofort wieder fallen gelassen. Absatz. Und weg ist sie. Die beiden, die da im Wald herumspazieren, erwähnen das mit keinem Wort. Über drei Seiten kommt es nicht mehr vor, so dass ich es nicht mehr als Bogen empfinde.

Stattdessen erzählt Nathanael von einem weiteren Dreieck in der Generation seiner Eltern: (all diese Erzählungen sind ebenso unaufgeregt wie die Kommentare, die die Erzählerin zu ihnen abgibt- als ginge es die beiden handelnden Personen nur ganz am Rande etwas an): 

Der Onkel Wolf und seine Bärbel. Die beiden waren eine Kinderliebe, Bärbel war sehr dick, der Onkel hat sie gefüttert, dafür durfte er sexuelle Sachen mit ihr machen. Sie wurde schwanger, kam ins Erziehungsheim, der Onkel hat eine andere geheiratet, die dünn war und Dinkelkekse aß. Nach vierzig Jahren trafen sich Onkel und Bärbel zufällig wieder, seitdem sind sie wieder ein Paar. Der Onkel füttert Bärbel, die jetzt schon so fett ist, dass sie nicht mehr aufstehen kann. Die Ehefrau des Onkels ist gestorben. („Feeding“ heißt diese Perversion, und die „Fütterer“ füttern dabei ihre Liebesobjekte bis zum Tod. Ich habe davon gehört, mich schauderts, aber welche Funktion hat das nun in der Geschichte? Und überhaupt: welche Geschichte?

Auf Seite 5 hat der Mann eine Nachricht auf dem AB hinterlassen:
„Er vermisse die Kinder. Und mich. Auch wenn ich das nicht hören wolle. Und er habe Neuigkeiten: Er komme voraussichtlich in zehn Tagen zurück.“
Aha. Sie will nicht hören, dass er sie vermisst. Hat sie ihn gebeten zu gehen? Trennung auf Zeit? Aber er kommt in zehn Tagen zurück. Wenn er das entscheiden kann, dann ging es doch nicht von ihr aus? Und wieder versinkt der kleine rote Faden um kommt nun bis ganz zum Ende nicht mehr vor.

Nathanael bringt- als Sandmann- die Kinder ins Bett. Der Größere träumt, dass er fliegt und abstürzt, hat am nächsten Tag arge Kopfschmerzen. Weil sie nicht wissen, ob das Kind nicht vielleicht aus dem Bett gefallen ist und eine Gehirnerschütterung hat, bringen sie ihn zum Arzt. Im Wartezimmer sitzt eine Bekannte (eine “sehr dumme Frau“), die glaubt, Nathanael sei der neue Partner der Erzählerin. Die weist sie zurecht: 

„ Philipp und ich sind verheiratet, es hat wahrscheinlich wenig Sinn, dir das zu erklären, aber wir tragen denselben Namen, dieselben Sorgen, dieselbe Verantwortung, und nun, leb wohl“.

Der Arzt sagt, das Kind habe nichts, es sei ja oft so, dass ihn die Eltern brauchen würden, nicht die Kinder. Auf dem Heimweg fragt Nathanael die Erzählerin, ob das, was sie über die Ehe gesagt hat, als Bekenntnis zu verstehen sei. Sie antwortet nicht, stattdessen zeigt sie ihm eine Esche am Kanal. Er sagt „sieht schön aus, wir sollten die hier nehmen, was meinst du?“. Ende.

Ich war überzeugt, dass ich irgendeinen Satz verpasst hätte. Dachte bei Beginn der Jurydiskussion, nun würde gleich irgendwer die Story zusammenfassen- mir erklären, warum der Mann weg war und was die Entscheidung am Ende bedeutet. Aber nichts! Im Gegenteil, niemand schien diesen Strang überhaupt bemerkt zu haben. Andererseits fehlte auch niemandem ein roter Faden. Alle waren begeistert von der, wie sie alle wiederholten, barocken Aufhäufung von „unerhörten“ Geschichten. Nun funktionierten die Geschichten in der Geschichte für mich aber auch nicht, denn auch das waren ja nur Situationsbeschreibungen ohne jeglichen Konflikt. Wieso ticke ich auf einmal so anders? Fehlt mir ein literarischer Schlüssel? (Abgesehen davon, dass ich den Text sprachlich sehr schön fand, fehlerfrei – aber er war mir egal, löste nichts aus.)

Eigentlich glaube ich, dass die Story so gemeint ist: Frau fragt sich, ob sie sich von ihrem Mann trennen soll. Geht mit schwulem Freund über den Friedhof. Sie muss dran denken, dass es die „normale“ Konvention für Beerdigung nicht mehr gibt. Die Kirche hat ja gesagt: „Bis dass der Tod euch scheidet“- und: Ehepaare gehören zusammen in ein Grab. Punktum. Jetzt hat eine diffuse Naturreligion übernommen, da können alle unter einem Baum liegen. Keine ordentlichen Institutionen mehr. Woran soll sie sich dann halten? Der schwule Hausfreund ist eigentlich der ideale Partner- nur dass es keinen Sex gibt. Und Sex ist ja nicht unbedingt schön- das Paar mit dem „Feeding“- da gibt es zwar das heute so wichtige beiderseitige Einverständnis- aber irgendwo ist das doch trotzdem nicht in Ordnung? Dann fällt das Kind aus dem Bett und hat einen Albtraum- vermutlich weil es lieber eine sichere Familie hätte als den schwulen Hausfreund als Sandmann. Daraufhin entscheidet die Frau sich für die Institution der Ehe. Nicht wegen „Liebe“ oder „Sex“, sondern weil sie eine Institution braucht, an die sie sich halten kann.

Diese Geschichte ist merkwürdig antiklimaktisch, und die Autorin hat soviel wie möglich mit Auslassungen gearbeitet. Dabei hat sie – jedenfalls für mich- ein bisschen zu viel weggelassen. Die Ängste der Icherzählerin waren für mich nicht nachvollziehbar. In der Jury sahen die meisten in Alt-68er Manier barocke Freuden in der alten Generation. Das hat ihnen gefallen- ich glaube aber, das ist nicht das, was in der Erzählerin vorgehen sollte um die „Story“ voranzutreiben. Einzig der jüngere, dünn und schweizerisch- asketisch wirkende Juri Steiner war von den Schrecken und der Lieblosigkeit der Beziehungen in der älteren Generation erschüttert…


Ronja von Rönne, „Welt am Sonntag“


Hier wiederum fast nur Naserümpfen in der Jury. Ich hingegen fand das zwar auch keine „große Literatur“- habe aber mindestens zehnmal laut gelacht. Noch öfter und vergnügter als bei Nora Gomringer.

Wieder eine Icherzählerin. Keine Story sondern eine Schimpftirade. Ein – teilweises- Alter ego der Autorin verbringt den Sonntag in Karlruhe, schreibt auf die „to do“-Liste für den Tag: „hassen“ und schimpft dann auf alles und jedes. Sehr sehr lustig!! Klar ist es am einfachsten aus enthemmtem Geschimpfe Witz zu ziehen, aber das ist schon gekonnt- ein Pointenfeuerwerk! Eigentlich ein Text fürs Feuilleton.

Der Gestus: die gute alte Verzweiflung der Adoleszenz. Ich denke (genau wie Kastberger) sofort an Sallinger. Natürlich gibt es das in jeder Generation wieder. Jemand wird erwachsen und sieht, dass die Welt hohl und verlogen ist. Keine Authentizität, nirgends. Nur totale Einsamkeit und Idioten. Und man empfindet, man sei der Einzige, der wirklich fühlen könne, der Einzige, der das Entsetzen des Todes begriffen habe.

Mir geht es wie immer mit diesen wütenden Jugendtexten (wen sie gut sind): ich fühle mich genauso! Und ich bin sofort wieder in dieser Phase in meinem eigenen Leben und denke, dass ich danach nie mehr so heftig empfunden habe wie damals. Und ich beneide diese Jugend, die noch provozieren darf und nichts sein als wütend- weil es ja noch keine Verantwortung gibt und pures Dagegensein noch eine Tugend ist.

„Sie wollen nicht zuschlagen, sie wollen nicht herumbrüllen, dabei sehe ich doch, dass sie Lust auf Gewalt haben, irgendwer muss ja die Millionen Shades-of-Grey-Bücher gekauft haben. 

„Ich will nur ein bisschen Krieg“, sage ich matt und ziehe einen Stuhl anden Tisch. 
„Hä?“, fragt das Mädchen mit dem NO PEGIDA-Shirt. 
„Ich will nur ein bisschen Krieg. Ich will nicht, dass alles so gemütlich ist“, sage ich und trinke ihr Bier aus.

Ahahahaha!!!! Ist das nicht herrlich?In der Jury scheint sich aber kaum wer zu freuen, sie haben auch nicht gelacht. Sind aber auch nicht provoziert- einzige Ausnahme: Meike Feßmann (Respekt!).

Das sind also keine verkappten Berufsjugendlichen, so wie ich. Aber so abgeklärt wie sie hier erscheinen (und ich denke gleich: „die Erwachsenen“) will ich nicht sein. Nein, ich will so jung sein wie Ronja von Rönne, so verzweifelt und so witzig.

Ein Unterschied zu früheren Texten, z.b. Sallinger: diese Erzählerin schimpft hauptsächlich auf Gleichaltrige, weniger auf Erwachsene. (Alternative Studentinnen: „Sie sind die Rädchen im System, die sich für den Sand halten“ )

Und die Autorin ist der Erzählerfigur gegenüber, mit der sie sehr viel gemeinsam hat, genauso gnadenlos zynisch wie gegen den Rest der Welt. Die Erzählerin muss nämlich „was leisten“, performt eine erfolgreiche Geschäftsfrau (die Ronja von Rönne ja ist), „hasst“ als Arbeitsaufgabe (und erstellt dabei den Hasstext, mit dem sie hier eingeladen wurde). Betrunken kriegt sie dann das heulende Elend und wäre doch gern geborgen in der Gruppe der doofen Alternativstudentinnen- geht aber nicht.

Also: die Provokation ist abgeperlt. Aber das ostentative Nicht-lustig-finden der Jury ist wahrscheinlich doch eine beleidigte Reaktion. Damit wird Ronja von Rönne wohl keinen Preis kriegen- aber viele, viele Aufträge. Und das verdient! Wer lachen will , (und sich jung fühlen) sollte den Text lesen!

Bachmannpreis 2015, erster Tag, Nora Gomringer

Zweite Lesung: Nora Gomringer

Ein fulminantes Ein-Frau- Hörspiel.

Story: Eine Autorin namens Nora Bossong betreibt Recherche für ein Buch, das „Der Gott
der verlorenen Dinge“ heißen soll. Sie klappert mit einem Recorder die Wohnungen in einem Mietshaus ab, in dem sich vor kurzem ein 13-jähriger Junge aus dem Fenster gestürzt hat. Es gibt drei Arten von Stimmen: die von Nora Bossong, die drüber nachdenkt, was sie da tut. Die der Bewohner des Hauses, die wiederum über Nora Bossong nachdenken, und in mehreren Fällen, nachdem sie bei der Tür draußen ist, daran denken, was sie ihr nicht erzählt haben. Und eine mysteriöse auktoriale Stimme, teils Erzähler, teils unaufgeklärte spirituelle Präsenz.

Vor dem Haus sitzt auf einer Schaukel ein grünes Monster- es ist der Erlkönig, der den Jungen geholt hat. Nora sieht ihn zuerst aus einem Fenster, am Ende, als sie aus dem Haus kommt, holt er sie dann schließlich auch:

„Die sonst hellsichtige Autorin bemerkt nicht, wie der Mann, der keiner ist und gleichzeitig viele, abrupt sein Schaukeln stoppt und langsam auf sie zugeht, die nichts vernimmt als eine vom Wind noch angestoßene Schaukel und die dieses Bild die absolute Verlorenheit begreifen lässt. Es wird ein kurzes Begreifen sein, das ihr der Sammler noch schenkt. 

Denn so enden alle Wesen, alle Dinge, auch die Betrachtung der Betrachtungen in den feuchten Augen eines Wesens, fremder als der Nachbar, kaum bei Tageslicht gesehen, doch keineswegs scheu. Und die einen nennen es Gott und die anderen wissen es besser.“
Nora Gomringer liest brillant, schlüpft in die verschiedenen Figuren, es ist ein großes Vergnügen ihr zuzuhören.

In der Jurydiskussion kommt wie jedes Jahr die Frage: darf sie das? Darf man hier beim Bachmannpreis so gut lesen, dass es einem womöglich einen unlauteren Vorteil gegenüber den schauspielerisch weniger begabten Konkurrenten mit ihren weniger hörspieltauglichen Texten verschafft?
(Ich komme vom Theater und finde: das darf man unbedingt! Das ist doch hier ein Vorlesewettbewerb- zum öffentlichen Vergnügen! Und natürlich sind so gut gelesene Texte Favoriten für den Publikumspreis).


Mir fehlt aber schon wieder was.

Dabei ist der Text - meta- meta- meta superhyper postmodern wie er ist- eine Freude für Rätselfreunde, wie ich es bin.

Rätsel eins: wieso heißt die Autorin im Text Nora Bossong? Das ist doch eine echte, existierende Autorin! Darf die "andere Nora" das denn? (Ich nehme an, dass Nora Gomringer Nora Bossong gefragt hat, ob es okay ist- es gibt ja Telefon). Also warum? Nur wegen der Vornamensgleichheit? Dann- vor lauter Nachdenken verpasse ich ein paar Sätze-  fällt mir die Lösung ein: die Autorin sucht nach Gott (dem Gott der verlorenen Dinge)- wo wird heute noch nach Gott gesucht: im Cern! Das Gottesteilchen heißt Higgs- BOSON!! Was für ein schöner Zufall, dass es eine Autorin gibt, die fast genauso heißt, nur das „g“ fehlt, das gibt’s dafür in „Higgs“- und dann auch noch Nora. Bei der Jurydiskussion sitze ich auf Nadeln: werden sie draufkommen? Oder kann ich anrufen und meine Super-wer-wird- Millionär-lösung durchgeben? Endlich- als vierte oder fünfte Wortmeldung kommt Juri Steiner mit der Higgs Bosong Sache. Gut!! Ich vermisse aber die Hotline, auf der ich meine Lösung hätte durchgeben und was gewinnen können…. 


meta meta: Der Text heißt "Recherche" , der text im Text : "Gott der verlorenen Dinge". Recherche + verloren = .... (usw usw)

Meta meta: der Bachmannpreis kommt vor- einerseits direkt im Text – eine der Hausbewohnerin, eine Literaturprofessorin, die die Leiche ihres Mannes unter signierten Büchern im Bett neben sich begräbt, stellt sich immer den Wecker, damit sie keine Bachmannpreislesung versäumt. Und:  Das berühmte Hörspiel (sic!) von Ingeborg Bachmann: ,“Der gute Gott (sic!) von Manhattan“ – rund um die Aufklärung eines „faits divers“ geschrieben- einem Bombenattentäter in New York.


Rätsel--- wieder Juri Steiner: "Von den Physikern wissen wir, dass sie die Antwort kennen: „The answer ist he universe but what ist he question?“ Darauf Hubert Winkels, halblaut: „42“. (Was natürlich die Antwort auf die Frage: was ist der Sinn des Lebens? aus „The hitchhikers guide tot he universe“ ist. Auf dem Dating Portal, auf dem ich mich herumtreibe, werden zig Fragen gestellt, eine davon ist „Was ist der Sinn des Lebens?“ und die Hälfte der Männer, deren „Profil“ ich mir angesehen habe, antworten „42“. – Und das passt auch wirklich gut zu der Art wie Nora Gomringer in ihren Text- postmodern- Trivialliteratur mischt- und auch den Erlkönig als Trivialliteratur benutzt.)


Das macht alles viel Spaß--- und doch und doch…. Was stört mich?

Der „arme süße Junge“ der aus dem Fenster gesprungen ist, weil er schwul war und in einer Welt von lauter mitleidlosen Monstern leben musste. Aber halt, hoppla. Wir, die Zuhörer, sollen ja keine Monster sein. Das Fallen dieses Jungen aus dem fünften Stock soll ja auch die Fallhöhe des Textes sein- und die ist dann doch hoch, wegen unseres angenommenen Mitleids mit diesem Jungen. Erst 13, mein Gott!! Und solche üblen, kalten Menschen um ihn herum! Wir sind nicht wie die! Nora Gomringer ist auch nicht „wie die“- sie geht davon aus, dass wir Mitleid empfinden werden, weil das ja „das Natürliche“ ist, das, was sie von sich kennt. Nur die Bewohner des Hauses, die kennen es nicht. Aber dadurch werden sie zu leblosen Schablonen und der Text zu einem- hochintelligenten – Kabarett, das letztlich den Zuhörer in seiner Selbstgerechtigkeit bestätigt.

Was fehlt, ist die Frage: was haben diese Menschen verloren? Das soll zwar der Inhalt der Recherche von Nora Bossong sein, aber die Figuren, die hier vorkommen, jedenfalls die meisten von ihnen, sind keine Menschen wie du und ich- sondern einfach schrecklich, sind Monster aus einer lustigen Geisterbahn. Und für die Frage des Kommunisten Brecht : „Was für eine Kälte muss über die Leute gekommen sein? Wer schlägt da so auf sie ein? Dass sie so durch und durch erkalten?“ gibt es hier keinen Aufhänger mehr.


Was mir zum Vergleich einfällt: „Eine Unbekannte aus der Seine“, Theaterstück von Ödön von Horvath. Ebenso wie in „Recherche“ ist ein unaufgeklärter Selbstmord, ein fait divers, der Auslöser der Geschichte- und das Stück recherchiert in einem Mietshaus. In den 30-er Jahren wurde die Leiche einer jungen Frau aus der Seine gefischt, sie wurde von niemandem vermisst und ihre Identität konnte nicht aufgeklärt werden. Aber jemand hat ihre Totenmaske abgenommen und sie soll so friedlich und überirdisch süß ausgesehen haben, dass Replikate dieser Maske enorm populär wurden und halb Paris welche gekauft hat. So ist Horvath drauf gestoßen- und fragt danach, warum diese Person sich wohl umgebracht hat. Das Stück spielt in einem Mietshaus, man lernt die verschiedenen Bewohner kennen, einen blinden Uhrmacher, eine Blumenhändlerin, ihren Ex- und ihren neuen Liebhaber, ein pubertierendes Gör usw. Und aus all den Geschichten setzt sich eine Welt zusammen, in die die Unbekannte nicht gepasst hat, und die sie am Ende in den Selbstmord getrieben hat. So weit ist die Geschichte sehr ähnlich (allerdings ohne Erlkönig, aber mit feuchtem Nass, dem Wasser, in das die Unbekannte geht). Aber im Gegensatz zur Geschichte von Nora Gomringer ist die von Horvath nicht postmodern- die Figuren haben ihre guten Gründe für ihre Handlungen. Zwar sind sie ebenfalls ohne Mitgefühl, aber man begreift wieso. Das sind keine Monster, sondern im Gegenteil ganz normale Menschen, und die Umstände- Armut und Wirtschaftskrise und die prekäre Rolle der Liebe in einer solchen Zeit- bringen sie dazu, so zu sein, wie sie sind. (und das Stück von Horvath ist trotzdem auch sehr lustig- wer es nicht kennt: lesen!! Ganz toll!! Hier gratis im Projekt Gutenberg)


Trotzdem: "Recherche" ist ein sehr guter Text, großartig vorgetragen-  Mein Favorit vom ersten Tag.

Bachmannpreis 2015. Erster Tag, Katerina Poladjan


Disclosure:

Wenn ich den Bachmannpreis anschaue, bin ich voller Neid. Ich würde viel lieber selbst dort lesen als zuschauen. Statt unvoreingenommen bin ich also prinzipiell eher missgünstig. Allerdings hoffe ich auch hier auf Texte, die mich begeistern und mir zeigen, was ich mir eigentlich von Literatur noch erhoffe- und mir einen Grund geben, selbst zu schreiben. Mir gefällt auch nicht NIE was. Ich war sowohl vom Siegertext 2013 von Katja Petrowskaya „Vielleicht Esther“ völlig begsistert, (und danach auch vom gleichnamigen Buch ), als auch von dem von Olga Martynova im Jahr davor. (Aber vielleicht kann ich nur Russinnen schätzen? Nein, ich war auch vom Text von Wolfgang Herrndorf hingerissen, „Diesseits des Van Allen Gürtels“ , der 2004 den Publikumspreis bekam, und habe danach alles von ihm gelesen. Dazwischen erinnere ich mich an fast nichts, aber ich erinnere mich generell fast nie an irgendetwas, wenn ich nicht darüber schreibe).



Tratsch: Diesmal natürlich spannend: wer sind die Neuen in der Jury?

Zunächst der Skandal: Daniela Strigl, die ich, wie die meisten, sehr gern mochte, hat nach dem Abgang von Burkhard Spinnen nicht den Vorsitz der Jury bekommen, wie es alle und wohl auch sie selbst, erwartet hatten, sondern Hubert Winkels wurde Vorsitzender. Daraufhin hat sie sich gleich ganz aus der Jury verabschiedet.

Wer war daran Schuld? Ich habe nirgends gelesen, wer überhaupt zuständig für die Jury ist. Wer beruft neue Juroren? Wer bestimmt den Vorsitzenden? Man liest immer ganz ausführlich, wie die Auswahl der Autoren vonstattengeht, aber nie, wie die Jury gewählt wird. Weiß das jemand?



Auf Hubert Winkels sind ja viele schlecht zu sprechen, weil er ein enormer Gschaftlhuber im Literaturbetrieb ist, überall dabei ist, wo es etwas zu sagen gibt und auch noch in einem Interview zugegeben hat, zum lesen käme er nur noch in den immer kürzeren Pausen zwischen seinen Auftritten. Tja. ... Ich mag ihn, finde seine Diskussionsbeiträge meist gut und interessant, und seine (immer ironisch angehauchte) Arroganz charmant. (Ich bin – natürlich - Feministin. Ich bin ja eine Frau, und verstehe nicht, wie irgendeine Frau nicht Anspruch auf dieselben Rechte und Chancen erheben könnte, wie sie Männer haben. Aber Männer, die in vorauseilendem Gehorsam so tun, als seien ihnen ihre Privilegien zuwider, imponieren mir deswegen noch lang nicht- im Gegenteil) (Außerdem gefällt mir die  Nase von Hubert Winkels,  wie beeindruckend schief sie aus dem Gesicht ragt, und dass die Nasenspitze ein eigenständiger Teil seiner Mimik ist und sich mitbewegt, wenn er redet. Sympathien beruhen ja zum großen Teil auf solchen physischen Details,  meist steckt da wohl nicht mehr ergründliches, frühkindliches Zeug dahinter. Ich vertraue zum Beispiel automatisch allen Leuten mit abstehenden Ohren, besonders wenn die Ränder der Ohren fransig sind, glaube ich ihnen alles, auch wider jede gegenteilige Evidenz, warum weiß ich nicht…. )






Russin, sie müsste mir also gefallen. Tut sie auch, tatsächlich haben alle diese Russinnen (oder jedenfalls die, die beim Bachmannpreis lesen) einen melancholischen Humor, der mich an den Wiener Tonfall vom Anfang des vorigen Jahrhunderts erinnert. Tschechow und Schnitzler haben viel gemeinsam, dieser leichte Ton, die Auslassungen, Schlittschuhlaufen auf dünnem Eis. Auch Katharina Poladjan sucht beim Schreiben nach Leichtigkeit, es ist aber moderner bei ihr, Film noir, cool, bloß nichts aussprechen. (Man merkt: sie schriebe gern wie Jazz- und tatsächlich kriegt sie in der Diskussion den Vergleich mit Miles Davis).

Ich habe sie schon vor zwei Monaten in Berlin beim Wettlesen für den Döblinpreis aus demselben Roman lesen hören. (Den Preis hat dann Natscha Wodin gewonnen, deren Stil ich überhaupt nicht mag, ich mag also doch nicht ALLE Russinnen)- und da hat K.P. einen Text vom Anfang des Buches gelesen. Das ist gut für mich, dadurch kenne ich die Figuren schon, heute hat sie nämlich einen späteren Abschnitt vorgelesen, und in der Diskussion fanden einige, der Text sei überladen, weil sie so viel auf einmal über die Figuren aufnehmen mussten- insofern war die Auswahl dieser späteren Stelle  vielleicht nicht ideal.



Die Figuren- und die Story:  Anna, eine Frau in mittleren Jahren, ist in Trauer um ihren vor ein paar Monaten verstorbenen Mann, den sie sehr geliebt hat. Sie begegnet in einem Salzburger Hotel einem Kommissar, der gerade wegen einer Konferenz in der Stadt ist - und die beiden brechen aus, aus dem, was sie tun sollten (Trauerfeier für den toten Mann bzw. Konferenz) fahren weg und verbringen die Nacht miteinander. In der Früh wacht der Kommissar auf, Anna ist weg- und zwar mitsamt seinem Auto. Erzählt wird abwechselnd aus seiner und aus ihrer Perspektive, aber beide sind auch von innen „cool“- obwohl es klar wird, dass die Nacht sehr hot war.  

Schön fand ich, dass am Morgen nach einer solchen  Nacht nicht er weg ist, wie üblich, sondern sie. Nicht nur weg, sie hat sich auch sein Auto genommen. Schön auch, dass K.P. die Situation nicht einfach umdreht, es nicht so konstruiert, als sei die spiegelbildliche Situation psychologisch für eine Frau ebenso normal, wie man sie bei einem Mann empfinden würde. Anna kann sich nicht binden, obwohl ihr der Kommissar gefällt, weil sie noch an ihrem toten Mann hängt- und findet sich dadurch in einer klassischen Konstellation in der Rolle des Mannes wieder.



Mir gefällt es also- aber ich bin auch irritiert. Ich würde mir wünschen, dass es ein Krimi wird. Den würde ich sofort lesen wollen. Ich fürchte aber, dass es kein Krimi ist, dass es außer Annas verstorbenem Ehemann keine weitere Leiche geben wird.

Warum wünsche ich mir, der Text möge zum Krimi werden? Hat wohl mit der Coolness zu tun. Es ist die klassische Coolness der desillusionierten, melancholischen Detektivromane, ist wie bei Chandler, zum Beispiel. Diese Detektive leiden an der Welt und können sich an niemanden binden, solange die Welt so schlecht ist, wie sie ist, aber sie würden darüber niemals ein Wort verlieren. Sie werden es nicht einmal denken, und falls ein Text mich in ihre inneren Monologe hineinlässt, ist da auch nur Coolness und Zynismus. Cool bedeutet: eine Menge Dinge werden nur über die Bande gespielt, aber dazu braucht es eine Bande!! Im Krimi: der Detektiv kämpft ganz ohne Belohnung drum, dass der Böse zur Strecke gebracht wird.. „nur so“. Das ist die Bande. Dadurch weiß ich, dass er sich nach einer besseren Welt sehnt- und solange es die nicht gibt, kann er nicht bürgerlich und sesshaft werden, denn die bürgerlichen Institutionen sind durch und durch korrupt (und die sogenannte Liebe ist eine von ihnen) - das ist die „große Sache“, dargestellt im Mordfall, der einem ansonsten egal sein kann.



(Gut gefallen hat mir auf dieser Linie der Polizeiruf von Christian Petzold, „Kreise“, am vorigen Sonntag. Matthias Brandt und Barbara Auer als desillusionierte mittelalterliche Kommissare. Der Film geht nur um die Liebesgeschichte zwischen den beiden- die die Frau beendet, bevor überhaupt was passiert. Beide sind total cool, nichts wird ausgesprochen, nur Stimmung- die „Bande“ über die sie spielen: die ewigen Kreise, in denen sich der Mittelstand bewegt wie eine Modelleisenbahn, und die den Mörder zum Mörder gemacht haben)



Beim Döblinpreis, wo das Publikum mitdiskutieren durfte, hat ein sehr junger, sehr ernsthafter Jüngling , offenbar ein Kämpfer für die wahre Literatur, nach der Lesung von K.P. empört in die Runde geworfen, dass ihr Text ihm „zu wenig“ sei- und das sagte er sehr wütend, - weil es da ja „um nichts GINGE!“ Das sei vielleicht gut geschrieben und unterhaltsam, aber das hier sei doch ein LITERATURpreis, und bei Literatur müsse es doch um etwas gehen, da wünsche er sich mehr. Und Katherina Poladjan sagte drauf mit einem kleinen sophisticated Lächeln, das verstehe sie, das gehe ihr auch oft so. (Fand ich bezaubernd gemacht, so klein und höflich war das, dass der junge Mann noch nicht einmal verstand, wie herablassend sie war). Ich war also auf ihrer Seite - aber auch gerührt von dem jungen Mann, der noch jung genug war, um eine hohe/ tiefe Bedeutung einzufordern. Er erwartete noch von der Literatur, dass sie ihn gefälligst retten solle aus seinem unerleuchteten Jammertal. Und vielleicht ist es das, vielleicht bin ich, obwohl keineswegs mehr so jung, insgeheim noch genauso.

So jung (und störrisch naiv) wie der junge Mann, oder so altmodisch wie meine Mutter. Sie ist 85, Akademikerin, und liebt die Oxfordkrimis mit Inspector Lewis. Als es keine neuen Folgen mehr gab, habe ich versucht, ihr „Downton Abbey“ als Ersatz schmackhaft zu machen. Bildung, der Untergang des Adels, ironische Behandlung von Klassengegensätzen- gute britische Schauspieler, hätte ja alles gepasst. Aber nach der ersten Folge war sie irritiert, nach der zweiten empört: wo ist der Mord?, fragte sie. Es gibt keinen, musste ich ihr gestehen. -Aber worum geht es dann? – Darum, wie die Leute miteinander umgehen, kleine Intrigen, Liebesgeschichten, Oberschicht versus Unterschicht, genau wie bei den Oxfordkrimis eigentlich. Sie, empört: Aber doch nicht ohne Mord! Na, das ist nix!

(Und jetzt gerade stelle ich fest: im Grunde empfinde ich das bei K.P. genau wie meine Mutter bei „Downton Abbey“- oder wie der junge Mann auf der Lesung. Mir fehlt was!- die Bande)



Aus der Jurydiskussion:

Hubert Winkels: ungefähr so: In der Geschichte werde ihm zu viel erzählt für ein bisschen Sex, das sei „literarischer Missbrauch eines One night stands“. 



Nationale Unterschiede:

Diskutiert wird, ob der Kommissar, der am Ende des Textes statt nach unten ins Tal nach oben auf den Berg fährt, und dort in ein Gewitter gerät, am Ende stirbt. (no way! Bin nicht im Entferntesten auf diese Idee gekommen)

Dazu sagt der (halb) Schweizer Juror Stefan Gmünder: wir Schweizer haben eine Bergliteratur- wenn einer in die Berge geht, dann wartet dort der Tod oder der Wahnsinn oder beides. Meistens beides.



Der neue österreichische Juror, Klaus Kastberger, mag den Text, findet ihn aber ein bisschen brav.  An manchen Stellen hätte es für ihn mehr zur Sache gehen können (ihm gefällt, dass Anne über die Pflanzen am Grab ihres Mannes zum Sohn sagt: „schau Theo, wie schön alles auf deinem Vater wächst!“ Jaha, die Österreicher! Der Satz ist mir auch gleich positiv aufgefallen!)  Darauf antwortet der Schweizer Juror, Juri Steiner : Sex lässt sich schwer beschreiben, da kann man nicht so leicht zur Sache gehen, da wird’s ein bisschen pornografisch und vielleicht ein bisschen mühsam, also ich denke, das Österreichische in Ihnen, war da vielleicht ein bisschen zu schnell, Herr Kastberger, ich als Schweizer lese den Text mehr französisch. “